Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

{T 0/2}

6B_116/2011

Urteil vom 18. Juli 2011

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Mathys, Präsident,

Bundesrichter Schneider,

Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,

Gerichtsschreiberin Horber.

Verfahrensbeteiligte

X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Kettiger,

Beschwerdeführerin,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand

Missachten eines richterlichen Verbots, Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 13. Januar 2011.

Sachverhalt:

A.

Die Gerichtspräsidentin 2 des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen bewilligte am 8. Mai 2006 dem Kanton Bern, den Schweizerischen Bundesbahnen SBB, der A.________ AG und der B.________ AG als Eigentümer der Grundstücke Bern-Gbbl. Nrn. 1.________, 2.________, 3.________, 4.________, 5.________, 6.________ und 7.________, Widerhandlungen gegen die Benützungsordnung dieses Gebietes zu untersagen und auf Antrag mit einer Busse bis Fr. 1'000.-- zu bestrafen (vorinstanzliche Akten, act. 26 und 36 f.). Die A.________ AG beantragte am 30. Mai 2009 die Bestrafung von X.________ wegen Missachtens des richterlichen Verbots durch Beschädigen oder Verunreinigen der Anlage. Jene habe am 30. Mai 2009 um 23.00 Uhr auf der C.________ in Bern in einem Gebüsch uriniert und ihren Hund nicht an der Leine geführt (vorinstanzliche Akten, act. 1).

B.

Das Obergericht des Kantons Bern sprach in Bestätigung des erstinstanzlichen Entscheids X.________ mit Urteil vom 13. Januar 2011 des Missachtens eines richterlichen Verbots schuldig. Von einer Bestrafung wurde Umgang genommen. Hingegen verurteilte das Obergericht X.________ zur Bezahlung der kantonalen Verfahrenskosten. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sowie Beiordnung von Rechtsanwalt Daniel Kettiger als unentgeltlichen Rechtsvertreter wies es ab.

C.

Gegen dieses Urteil erhebt X.________ Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 13. Januar 2011 sei aufzuheben, und sie sei freizusprechen. Der Kanton Bern sei zum Ersatz der Parteikosten in der Höhe von Fr. 2'776.10 für das erstinstanzliche sowie Fr. 3'093.50 für das zweitinstanzliche Verfahren zu verurteilen. Eventualiter sei Ziff. 4 des Urteilsdispositivs (Nichtgewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung) aufzuheben, und ihr sei nachträglich für das zweitinstanzliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und Rechtsanwalt Daniel Kettiger als unentgeltlichen Rechtsvertreter beizuordnen. Es sei ihr zudem für das Verfahren vor Bundesgericht die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und Rechtsanwalt Daniel Kettiger als unentgeltlichen Rechtsvertreter beizuordnen.

D.

Das Obergericht sowie die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern verzichten auf Vernehmlassungen.

Erwägungen:

1.

Die Beschwerdeführerin macht einen Verstoss gegen den Grundsatz "nulla poena sine lege" sowie eine Verletzung von Art. 7 EMRK, Art. 15 UNO-Pakt II und Art. 26 Abs. 5 KV/BE (SR 131.212) geltend. Das richterliche Verbot sei keine ausreichende gesetzliche Grundlage für ihre Verurteilung. Die Parkanlage C.________ in Bern stehe der Bevölkerung frei zugänglich zur Verfügung. Auch private Strassen und Plätze im Gemeingebrauch würden unter die kantonale Strassengesetzgebung fallen, da sie als öffentliche Strassen gelten würden. Die Hoheit hierüber habe die Gemeinde, unabhängig vom privatrechtlichen Eigentum am Grundstück. Daher liege die Zuständigkeit zum Erlass eines richterlichen Verbots bei der Einwohnergemeinde Bern, nicht aber bei der A.________ AG als Eigentümerin des Gebiets (Beschwerde, S. 7 N. 26 f.). Zudem sei bis anhin nicht abgeklärt worden, ob die A.________ AG tatsächlich Eigentümerin des betroffenen Teils der C.________ sei (Beschwerde, S. 12 N. 45). Darüber hinaus sei der strafrechtliche Besitzesschutz nach Art. 118 EG ZGB an öffentlichen Sachen im Gemeingebrauch nicht möglich. Die öffentlich-rechtliche Körperschaft könne den Gemeingebrauch nicht durch ein richterliches Verbot einschränken, sondern es sei ein Benutzungsreglement zu erlassen. Ein richterliches Verbot nach Art. 118 EG ZGB stelle somit nicht die korrekte gesetzliche Grundlage dar, was bereits die erste Instanz zu Recht festgestellt habe (Beschwerde, S. 8 N. 28). Ein unrechtmässig erlassenes richterliches Verbot sei, entgegen der Ansicht der Vorinstanz, nicht anwendbar und könne im konkreten Einzelfall im Rahmen eines Strafverfahrens angefochten werden (Beschwerde, S. 8 N. 29 ff.).

2.

Die Vorinstanz erwägt, das Gebiet der C.________ stelle eine öffentliche Sache im Gemeingebrauch dar, wenn auch nicht im Sinne des kantonalen Strassengesetzes. Hinsichtlich Grundstücke im Finanz- und Verwaltungsvermögen halte das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung (Urteil 6P.12/2004 vom 6. April 2004 E. 2.2) fest, es gebe keine sachlichen Gründe, die zuständigen Behörden von der Inanspruchnahme des strafrechtlichen Besitzesschutzes auszuschliessen. Betreffend Grundstücke im Gemeingebrauch äussere sich das Bundesgericht nicht. Nach Ansicht der Vorinstanz müsse es auch bei Sachen im Gemeingebrauch möglich sein, ein richterliches Verbot nach Art. 118 EG ZGB zu erlassen. Daher sei von der Rechtmässigkeit des Verbots auszugehen. Zudem sei ohnehin umstritten, ob ein einmal erlassenes richterliches Verbot in einem späteren Strafverfahren überprüft werden könne (vorinstanzliches Urteil, S. 18 f.).

3.

3.1 Der Grundsatz der Legalität ("nulla poena sine lege") ist in Art. 1 StGB und Art. 7 EMRK verankert. Er besagt, dass sich ein staatlicher Akt auf eine materiellrechtliche Grundlage stützen muss, die hinreichend bestimmt und vom staatsrechtlich hierfür zuständigen Organ erlassen worden ist (BGE 130 I 1 E. 3.1 mit Hinweisen). Der Grundsatz "nulla poena sine lege" ist demnach verletzt, wenn ein Bürger wegen einer Handlung, die im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet ist, strafrechtlich verfolgt wird, oder wenn eine Handlung, derentwegen ein Bürger strafrechtlich verfolgt wird, zwar in einem Gesetz mit Strafe bedroht ist, dieses Gesetz selber aber nicht als rechtsbeständig angesehen werden kann, oder endlich, wenn der Richter eine Handlung unter ein Strafgesetz subsumiert, die darunter auch bei weitestgehender Auslegung nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen nicht subsumiert werden kann (BGE 112 Ia 107 E. 3a mit Hinweis).

3.2 Die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Missachtens eines richterlichen Verbots erfolgte gestützt auf Art. 118 des Gesetzes des Kantons Bern vom 28. Mai 1911 betreffend die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (EG ZGB; BSG 211.1; die Bestimmung wurde mit Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung aufgehoben). Gemäss dieser Bestimmung hat der Richter dem Besitzer eines Grundstücks auf dessen Begehren ein Verbot zu bewilligen, durch das jede Störung des Besitzes mit einer auf Antrag auszufällenden Busse bis zu Fr. 1'000.-- bedroht wird. Die am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (ZPO; SR 272) kennt in Art. 258 ebenfalls ein gerichtliches Verbot, das den Schutz des an einem Grundstück dinglich Berechtigten vor Besitzesstörung bezweckt.

3.3 Zu klären ist zunächst die Frage, ob die Rechtmässigkeit eines bewilligten richterlichen Verbots anlässlich eines späteren Strafverfahrens im konkreten Einzelfall überprüft werden kann. Die Vorinstanz lässt diese Frage zu Unrecht unbeantwortet. In der Lehre herrscht weitgehend Einigkeit, dass das Verbot nicht in materielle Rechtskraft erwächst und von einem beschuldigten Störer in einem allfälligen Strafverfahren angefochten werden kann, so dass dessen Rechtmässigkeit vom Gericht zu überprüfen ist (GASSER/RICKLI, Schweizerische Zivilprozessordnung Kurzkommentar, 2010, N. 5 zu Art. 260 ZPO; TENCHIO/TENCHIO-KUZMIC, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, N. 1 zu Art. 260 ZPO; TARKAN GÖKSU, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2010, N. 2 zu Art. 258 ZPO; a.M. STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2008, S. 360). Der mehrheitlich vertretenen Ansicht ist beizupflichten. Als Akt freiwilliger Gerichtsbarkeit erwächst das gerichtliche Verbot nicht in materielle Rechtskraft, und es kann darauf zurückgekommen werden (BGE 136 III 178 E. 5.2; ISAAK MEIER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 369 f.). Diese Auffassung gilt auch für das richterliche Verbot nach altem bernischen Recht im Sinne von Art. 118 EG ZGB. Unbestritten ist, dass es sich bei der Parkanlage der C.________ um eine öffentliche Sache im Gemeingebrauch handelt (vorinstanzliches Urteil, S. 18). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss das Gemeinwesen auf öffentlich-rechtlichem Wege vorgehen, wenn es den Gemeingebrauch eines Grundstückes einschränken oder aufheben will (Urteil 6P.12/2004 vom 6. April 2004 E. 2.2 mit Hinweisen). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz äusserte sich das Bundesgericht somit zur Frage, ob bei Grundstücken im Gemeingebrauch das Gemeinwesen den strafrechtlichen Besitzesschutz wie ein Privater für sich in Anspruch nehmen kann und verneinte sie. Bei öffentlichen Sachen im Gemeingebrauch untersteht das Verhältnis zwischen dem Träger der Herrschaft und dem Benutzer stets dem öffentlichen Recht. Im Gegensatz zum Zivilrecht ist mit einer Benutzungsordnung nicht der Besitz zu schützen, sondern die Nutzung einer öffentlichen Sache zu regeln. Selbst wenn die A.________ AG Eigentümerin des betroffenen Grundstücks ist, sind Zweckbestimmung und Verfügungsmöglichkeit des Staates die massgeblichen Kriterien, ob eine Sache als öffentliche Sache gilt. Eigentum hingegen bildet kein Anknüpfungskriterium (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, N. 2327, 2365 und 2369). Der strafrechtliche Besitzesschutz und somit das richterliche Verbot bilden vorliegend keine rechtmässige gesetzliche Grundlage für die Verurteilung der Beschwerdeführerin, da die materiellrechtliche Grundlage nicht vom zuständigen Organ im vorgesehenen Verfahren erlassen wurde (E. 3.1 hievor). Die Frage, ob die Vorinstanz die Anwendbarkeit des kantonalen Strassengesetzes zu Recht verneint hat, kann an dieser Stelle offen bleiben. Die Beschwerde erweist sich als begründet. Auf die Rügen des Fehlens eines gültigen Strafantrags, der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, der Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren, der willkürlichen Feststellung des Sachverhalts, der Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo", der Verletzung des Grundsatzes der "lex mitior", der Verletzung von Art. 335 StGB sowie der Verletzung des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege muss nicht eingegangen werden.

4.

Die Beschwerde ist gutzuheissen, das vorinstanzliche Urteil vom 13. Januar 2011 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Bern hat der Beschwerdeführerin die Parteikosten für das bundesgerichtliche Verfahren zu ersetzen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Die Entschädigung ist ihrem Rechtsvertreter zuzusprechen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 13. Januar 2011 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als gegenstandslos

abgeschrieben.

3.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.

Der Kanton Bern hat dem Vertreter der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt Daniel Kettiger, eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.

5.

Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. Juli 2011

 

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